Ganze Kapitel finden sich über die Anrede in Knigge & Co. Aber während du relativ leicht lernen kannst, auf dem gesellschaftlichen Parkett zu glänzen, sagt dir niemand, wie du als Autor mit der Anrede umgehst. Dabei begehst du in deinem Roman mit der falschen Anrede noch weit mehr als einen sozialen Tritt ins Fettnäpfchen.

Die Anrede gehört zur Figur wie ihr Name

Für die Namensgebung deiner Figur nimmst du dir bestimmt Zeit. Egal ob Held oder Antagonist, deine Figuren sind deine Geschöpfe, und wenn du deinem Kind einen Namen gibst, tippst du ja auch nicht einfach blind ins Telefonbuch oder in die Liste der beliebtesten Vornamen. Jetzt hat das Kind, äh, deine Figur also einen richtig passenden, klingenden Namen, und du glaubst, die Sache ist gegessen? Von wegen!

Mit dem Dialog geht die Sache erst so richtig los, denn ging es bis dato nur um eine Figur, kommen mit der Anrede auch noch alle anderen ins Spiel. Und während der Name so mehr oder weniger gleich bleibt, tut sich auf einmal eine große Bandbreite an Möglichkeiten auf.

Nicht jeder ist ein Don – Die Anrede muss zum Charakter der Figur passen

Du fragst dich jetzt vielleicht, was der Charakter mit der Anrede zu tun hat? Nimm mal einen Mafia-Roman her. Das Oberhaupt der ehrenwerten Familie wird mit Don angeredet, und wenn du Der Pate gelesen oder gesehen hast, weißt du auch warum. Wird irgendeiner auf die Idee kommen, Don Corleone flapsig »hey, Kumpel« zu rufen? Oder werden die hartgesottenen Gangster irgendeinen Möchtegern mit Don ansprechen?

Michael Corleone muss sich Status und Anrede erst verdienen und er muss das Zeug haben, beides auch durchzusetzen. Je stärker und mächtiger eine Figur ist, desto eher darf sie bestimmte Anreden erwarten und desto einheitlicher wird diese Anrede vermutlich ausfallen.

Die Anrede gibt Aufschluss über die Machtverhältnisse

Zugegeben, mit der Mafia habe ich ein extremes Beispiel gewählt. In manchen Gesellschaften hast du größere Freiheiten, während andere Gruppen dich so sehr einengen, dass sie dir die Qual der Wahl abnehmen. Wenn du eine Figur anlegst, frage dich daher, in welchen Gruppen sie auftritt und welchen Rang sie dort einnimmt. Ist die Figur mächtig? Worauf beruht diese Macht? Auch solche Informationen trage dir ins Figurenfactsheet ein.

Ständegesellschaft und Klassenkampf

Vor allem, wenn du historische oder historisierende Texte schreibst, kommst du um gründliche Recherche nicht herum. Uns Normalsterblichen liegen die Feinheiten der Adelsgesellschaft nicht gerade im Blut, unsereins muss in Protokollabteilungen anrufen, um herauszufinden, ob man einen Fürsten mit Durchlaucht oder Hochwohlgeboren anspricht. Was dem Herzog gebührt, gebührt dem Grafen noch lange nicht, von Herzog zu Herzog redet es sich anders als von Herzog zu Graf oder von Graf zu Herzog.

Orientiere dich für deinen Fantasy-Roman an der Ständegesellschaft. Wenn du Regeln aufstellst, und sie konsequent durchhältst, vermittelst du deinem Leser dadurch einen Eindruck von den Kräfte- und Machtverhältnissen. Hierunter fallen auch Duzen, Siezen, Ihrzen und in historischen Romanen Erzen.

Kommst du hingegen einer klassenkämpferischen Figur mit einer Durchlaucht, hast du deinen Stempel sofort ab. Ob Bürger nach der Französischen oder Genosse nach der Russischen Revolution, jetzt ist Gleichmacherei angesagt. Und damit entstehen Anreden, die noch heute in bestimmten politischen Lagern durchgezogen werden. Mit solch einer Anrede kannst du Figuren übrigens in einem einzigen Wort herrlich charakterisieren, ohne lang und breit über ihre politischen Ansichten und Hintergründe zu schwafeln.

Beruflicher Kontext

Ebenso viel Recherche wie für historische Romane wirst du für Geschichten aufwenden müssen, die in bestimmten Berufsgruppen spielen. Im Krimi solltest du nicht nur die Offiziersränge der Polizei drauf haben, sondern bei Polizei und Militär gibt es ebenso knifflige Vorschriften in der Anrede wie beim Adel. Das gilt nicht nur im Krimi oder Thriller, sondern auch in der Science Fiction. Doch nicht nur für (para)militärische Strukturen brauchst du eine klare Vorstellung der Anreden. Im akademischen Milieu sind sie ebenso geregelt wie im diplomatischen Corps, der Kirche, im Krankenhaus oder auf Ämtern.

Regionale Finessen

Ok, ich gebe zu, hier haben wir Österreicher mit unserer Titelsucht einen gewissen Vorteil, was ein echter Österreicher ist, hat das irgendwie drauf. Womit sich gleich die nächste Frage auftut: Wo spielt dein Roman? Der deutsche Chefarzt heißt in Wien Primar und wird auch mit Herr oder Frau Primar angesprochen, bei Scotland Yard sind die Dienstränge bestimmt anders als in Oberbayern, und ein Professor kann ein Gymnasiallehrer sein, während er für denselben Titel an einer Universität eine Habilitation und einen der begehrten Lehrstühle braucht. Oder er lebt in Österreich, macht sich in irgendeiner Form um Kunst und Kultur verdient und überzeugt Politiker davon 😉

Du musst die Regeln kennen, um sie zu brechen

Als Autor solltest du jedenfalls die gesellschaftlichen Regeln kennen. Befrage Insider, hol dir Auskunft in Protokollabteilungen oder betreibe Quellenstudium, also setze dich in Bibliotheken und lies alte Dokumente, Zeitungsausschnitte, Reden und Briefe. Das sind die Basics, erst wenn du die kennst, wird es spannend. Die Anrede sagt nämlich über den Sprecher und sein Verhältnis zur Figur mindestens ebenso viel aus wie über die Figur selbst. Und dafür solltest du variieren.

Zeige deine Figuren auch abseits vom Protokoll

Anton Müller leitet eine Morduntersuchung, und du kannst dir bestimmt ausmalen, dass die Mutter des Mordopfers den Herrn Kommissar um Gerechtigkeit anfleht. Die schnippische Blumenverkäuferin wird ihn auch Kommissar nennen, allerdings in einem sehr wichtigen Ton, der ihre Bedeutung für die Ermittlungen hervorstreicht. Ganz anders klingt da schon der Hauptverdächtige, ein zwielichtiger Immobilienhai, im Verhörzimmer.

Daheim ist Müller natürlich nicht der Kommissar, sondern der Papa. Bis vor kurzem zumindest, denn sein pubertierender Sohn findet neuerdings Dad cool, seinen Freunden gegenüber redet er aber nur von seinem Alten. Das geht in die gleiche Richtung wie der Bulle (oder Wienerisch der Kieberer), wie ihn der Immobilienhai bevorzugt nennt, wenn er mit seinen Spießgesellen über Müllers Schikanen herzieht.

So schnell verrät man sich

Und schon wieder sparst du dir langwierige Erklärungen über das Verhältnis der Figuren zueinander. Du brauchst keinen inneren Monolog, wenn eine verächtliche Bezeichnung die Einstellung von Sohnemann oder Verbrecher auf den Punkt bringt. Alles, was du wissen musst, ist:

  • Wie denkt die andere Figur über ihn?
  • In welcher Situation findet die Rede statt?
  • Wer hört mit?
  • Wie ist der Redner emotional drauf?

Je mehr der Redner unter Druck ist, desto ehrlicher ist übrigens auch seine Ausdrucksweise. Steht er mit dem Rücken zur Wand oder kocht er vor Wut, wird er schon mal die angemessene Anrede vergessen.

Auch in Hierarchien menschelt es

Wie die Kollegenschaft Müller nennt, ist auch nicht unerheblich. Außenstehenden gegenüber reden sie natürlich vom Kommissar, ihn selbst rufen sie Chef, der gleichrangige Kommissar beschränkt sich auf Müller (er kann ihn nicht so wirklich leiden) und wenn Müller seinen grantigen Tag hat, beschweren sich die Kollegen in der Kaffeeküche über den Dicken.

Auch Feinde können höflich sein

Niemand behauptet, dass man einen Feind nicht schätzen kann. Wenn du mehrere Bösewichte in einer Geschichte hast, unterscheide sie einfach über ihre Anrede des Helden. Je schwächer der Charakter des Bösen ist, desto verächtlicher wird er vermutlich reden, denn er muss seinen überlegenen Gegner klein machen, um sich selbst groß zu fühlen. Mache dir also nicht nur Gedanken über die Einstellungen deiner Figuren zueinander, sondern auch über ihr eigenes Selbstverständis.

Die Anrede in der Erzählerrede

Als Erzähler mache dir vor allem die Perspektive klar, aus der du erzählst. Wenn der Immobilienhai in seiner vertrauten Umgebung abwertend vom Bullen oder vom Müller spricht, wird er nicht auf einmal von ihm als Kommissar denken. Suche auch eine passende Bezeichnung, wenn du in Müllers Perspektive bist. Definiert er sich ausschließlich über seinen Rang und Beruf? Nur dann schreibe vom Kommissar, ansonsten passt besser der Name. Ob du schreibst, dass Müller handelt, Anton oder Toni, hängt davon ab, welches Verhältnis du zwischen ihm und Leser aufbauen willst.

 

Du merkst schon, eine Figur hat immer mehrere Namen und Bezeichnungen. Experimentiere mit ihnen und eröffne dir dadurch Erzählmöglichkeiten, die verborgene Schichten viel tiefer erschließen können, als eine mühsame Beschreibung. Auch das ist Zeigen 😉

Viel Spaß beim Schreiben!

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