Du weißt, wie wichtig ich Figuren für deinen Roman halte. Sie sind das Material deiner Geschichte, diejenigen, die die Handlung tragen und den Leser für sich und die Story einnehmen. Was aber geschieht, wenn nicht nur zwei oder drei Figuren aufeinandertreffen, sondern wenn die Handlung ein regelrechtes Gewimmel erfordert? Wie inszenierst du gekonnt eine Masse?

Mehrere Figuren, na und?

Du könntest nun argumentieren, dass eine Masse ja auch nichts anderes ist als sehr viele Figuren auf einem Fleck. Theoretisch hast du damit recht, praktisch ist die Sache nicht ganz so einfach. Beginnen wir mal wieder mit der Funktion. Frage dich, wofür du die Masse überhaupt brauchst. Willst du sie als Kulisse einsetzen? Als Gegenspieler? Einfach als Get-together mehrerer Hauptfiguren? Oder als etwas Großes, Ganzes, als eigenständige Figur? Danach richtet sich deine weitere Vorgehensweise.

Die Masse als Kulisse

Willst du einfach Stimmung erzeugen? Wenn du deine Figuren in ein Bierzelt setzt und sie vor dem allgemeinen Schunkeln in einen Streit geraten oder Lebkuchenherzen austauschen, dann spielt das, was die Masse währenddessen tut, eine relativ geringe Rolle. Überlege dir lieber, wie du die Atmosphäre nutzen kannst. Ein Betrunkener könnte eine der beiden Hauptfiguren versehentlich rempeln und so eine Reaktion auslösen, die für das Paar wichtig wird. Verteidigt der Lover die Ehre der holden Maid? Oder wurde er selbst angerempelt und schlägt prompt zurück? Beides wird sich nicht nur auf den betrunkenen Verursacher auswirken, sondern vor allem auf das Paar selbst. Sie kann sich geschmeichelt fühlen, ihm Feigheit vorwerfen, Machogehabe, was auch immer.

Es geht trotz allem um die Hauptfiguren

Ob der Kontrahent blonde, braune oder grüne Haare hat, ist dabei relativ egal. Auch, warum er zu viel trinkt. Die Kellnerin, die den Humpen Bier auf den Tisch stellt, ist gesichtslos, und die Schunkelrunde zwei Tische weiter schunkelt, aber interessiert weiter nicht. Spannend ist vielmehr, wie sich die Hauptfiguren in dieser Umgebung fühlen. Wie in einer Oper oder einem Musical, wo Tänzer und Chor die Show begleiten, liegt das Hauptaugenmerk trotz allem auf ihnen. Betrachte in diesem Fall die Masse nicht als Zusammensetzung von Figuren, sondern als Element eines Schauplatzes, als bewegtes Bild. Die Details verschwimmen und fügen sich zur Gesamtstimmung zusammen. Zu viele Details lenken nur vom wirklich wichtigen Geschehen ab.

Auch die Stimmen verschmelzen

So wie die Bilder zu einem einzigen Hintergrund verschwimmen, so verhält es sich auch mit den Stimmen. Baue keine Einzelgespräche auf, schon gar keine, denen man folgen kann. Wirf lieber unterschiedliche Sätze oder Satzfragmente ein, die zusammen eine Geräuschkulisse ergeben. Die Stimmen sind nicht unterscheidbar, es ist nicht einmal wichtig, woher sie kommen oder wem sie gehören. Verzichte daher weitgehend auf Inquit-Formeln (er sagte, sie antwortete, er schrie usw.), eine Masse spricht ungeordnet und durcheinander.

Und wenn die Masse mitspielt?

Dann sieht die Angelegenheit natürlich vollkommen anders aus. Zuerst musst du die wichtigste Frage klären: Ist die Masse ein einheitlicher Block, oder geht es dir dabei gerade um die Ansammlung unterschiedlicher Menschen? Du kannst eine Masse zum Leben erwecken, indem du sie in Einzelfiguren und Einzelevents auflöst. Hier greifst du charakteristische Miniszenen heraus, auf die du wie im Theater vorübergehend den Scheinwerfer richtest. Wer gerade im Licht steht, hat seine paar Minuten Ruhm. Da du nur deine Hauptfiguren während des gesamten Romans aufbaust, in diesen Miniszenen jedoch Kleinstfiguren ihren einmaligen Auftritt haben, musst du diese Figuren mit ein paar Strichen umreißen.

Wie du Figuren in kürzester Zeit zum Leben erweckst?

Setze Typen ein. Typen sind Figuren, die ganz bestimmte Erwartungen bedienen und vorgegebenen Handlungsmustern folgen. Im Kasperltheater hast du beispielsweise den pfiffigen Kasperl, den bösen Räuber (oder wahlweise das böse Krokodil, den Zauberer oder die Hexe), den Polizisten, den Freund von Kasperl (Pezi, Strolchi usw.). Egal an welcher Bühne du Kasperl oder das Krokodil siehst, du erkennst sie erstens sofort und weißt zweitens, was du von ihnen zu halten hast. Demselben Prinzip folgen die Commedia dell’arte oder die sächsische Typenkomödie.

Sowohl in der Optik als auch bei der Sprache und ihren Aussagen basieren solche Typen auf Klischees. Eben damit das kollektive Gedächtnis blitzschnell abgerufen wird. Viele Autoren fürchten Klischees wie der Teufel das Weihwasser, doch hier wird es zu deinem Verbündeten. Der joviale Wirt, die Dorfschlampe, der Polizist, der Lehrer, der Bürgermeister, der Lausbub, das zänkische Ehepaar, die Tunte … Ich bin sicher, dir fallen für das Bierzelt genügend Typen ein, die du in zwei Sätzen beschreiben kannst.

Bei den Hauptfiguren wird die Sprache enorm wichtig

In einem Dialog kannst du dem Leser noch relativ einfach klarmachen, wer gerade spricht. Und zwar ohne Inquit-Formeln, einfach durch die Wechselrede und gelegentliche Übersprungshandlungen. Kommt eine dritte Figur hinzu, wird das schon komplizierter, hier streust du immer wieder Namen und Anreden ein, um Orientierungshilfen zu geben. Wenn nun aber fünf, sechs oder gar zehn wichtige Figuren in einem Raum sind, dann kommst du nicht mehr ohne die Eigenheiten dieser Figuren aus. Ich kann dir gar nicht oft genug eine individuelle Figurensprache für jede einzelne Figur ans Herz legen! Wenn du eine holprige Anhäufung von Inquit-Formeln vermeiden möchtest, dann muss bei jedem Satz klar sein, aus wessen Mund er ausschließlich kommen kann.

Die Masse als eigene Figur

Es gibt jedoch Situationen, in denen die Masse weder Kulisse noch eine Zusammensetzung von Einzelfiguren und den dazugehörigen Einzelauftritten ist, sondern in der sie in ihrer Gesamtheit eine eigenständige Figur bildet. Ein Heer beispielsweise, oder der Mob, oder das Volk in einem historischen Roman oder in einer Fantasygeschichte. Wenn du eine Schlacht oder eine Revolution oder auch »nur« eine Eskalation in einem Fußballstadion oder vor einem Flüchtlingsheim darstellst, dann tritt diese Masse als Kollektiv in Aktion. Dann verpass ihr gemeinsame Handlungsweisen und eine gemeinsame Stimme, und lass sie gerade durch die Einheitlichkeit bedrohlich wirken. Wie in einer Welle nicht die einzelnen Tropfen in Erscheinung treten, sondern die komplette Woge, wachsen in solchen Situationen die einzelnen Menschen zur Masse zusammen und walzen wie ein gewaltiger Tsunami alles nieder.

Charakterisiere die Masse

Ist sie sozial homogen, stammen ihre Mitglieder alle aus derselben Gesellschaftsschicht? Dann überlege dir, wie »der« Pöbel aussieht, oder »der« Hof. Wie wirkt »das« Militär nach außen? Vielleicht ist für deine Szene aber gerade wichtig, dass sich die Masse aus unterschiedlichen Schichten zusammensetzt. Ich schrieb in Der Schwur der Schlange eine Hinrichtungsszene. In der zeige ich, dass die Masse keineswegs nur aus dem Pöbel besteht, sondern die Unterschicht ebenso zum Spektakel strömt wie die Bürger und der Hof. Diese Masse wird nicht durch ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit zusammengehalten, sondern durch ihre Schaulust, und ich stelle diese Einheit nicht durch Kostüme oder Ausdrucksweisen her, sondern über den Inhalt der Rufe und über den Symbolgehalt der Gesten.

Ist die Masse gespalten?

Es macht einen Unterschied, ob die Masse dasselbe Ziel verfolgt und sich wie eine Feuersbrunst durch das Geschehen frisst, oder ob sie in sich uneins ist. Gibt es zwei widerstreitende Parteien? Dann hast du im Grunde genommen zwei Massen, also zwei Figuren, die du auch als zwei eigenständige Kollektivfiguren behandeln solltest. Oder geht es gerade um das Chaos innerhalb der Masse? Dann überlege dir, wie du dieses Durcheinander darstellen kannst. Durch Sätze, die nicht Bezug aufeinander nehmen, durch Handlungsfetzen, die keinen Gesamtsinn ergeben. Durch ein Stimmenwirrwar und schwankende Meinungen.

 

Halte dir immer vor Augen, was und wer dir in einer Szene wichtig ist. Geht es dir um die Hauptfigur, dann lass sie nicht in der Masse untergehen. Spielt die Masse als Masse die Hauptrolle, dann entscheide vorher, welche Wirkung du erzielen und welche Gefühle du transportieren willst. Für mich liegt die Faszination der Masse in der Gleichzeitigkeit der Stimmen und in der überwältigenden Macht, der der größte Held ohnmächtig ausgeliefert ist. Ebenso kann er die Masse aber als wortgewaltiger Demagoge anstacheln und für sich nutzen. Die Masse eröffnet dir Möglichkeiten, die eine einzelne Figur nicht hat. Experimentiere damit!

Viel Spaß beim Schreiben!

Deine Barbara

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